Der Deichbau in Ostfriesland

Deichbau in Ostfriesland

Die ersten Spuren des Deichbaus lassen sich bis vor das Jahr 1000 zurückverfolgen. Vorläufer des Deichbaus waren die noch allenthalben in der Marsch sichtbaren Warften, künstliche Erhöhungen, die den Menschen in der tiefliegenden Marsch als Schutz bei den täglichen und auch bei kleineren Sturmfluten dienten. Zunächst begann der Siedler in der Marsch seinen Besitz mit einem niedrigen Erdwall zu umgeben. Was konnte jedoch der Ein­zelne gegen die Gewalt des Meeres ausrichten?

So gut wie gar nichts! Erst der Zusammenschluss einzelner Siedler, die ihren Besitz mit einem Wall umgaben und später, als der Deich um ein­zelne bzw. mehrere Gemeindegebiete gezogen  wurde, ergab sich im Laufe der Geschichte die wohl einmalige 1000‑Jährige Gemeinschaftsleistung der Küstenbewohner der südlichen, Nordsee.

 

Dieser Entschluss und die Bereitwilligkeit zur gemeinsamen sozialpolitischen wichtigen Aufgabe fand ihren Niederschlag in den ältesten geschriebenen Rechtssätzen der Friesen, wo es heißt: "Dies ist auch Landrecht, dass wir Friesen sollen eine Seeburg stiften und einen goldenen Wall und Band der um das ganze Friesland liegt ..(u.w.). Zur See hin sollen wir Friesen unser Land schätzen mit drei Geräten, mit dem Spaten und der Tragbahre und mit der Gabel...(Rästringer Recht, um 1300)

Früh wurde erkannt, wie wichtig der Deichbau für die Küstenbewohner war und ist. So hieß es in der 10. Küre (vor den 12. Jh.),  dass der Friese sich nicht weiter südwärts von seinem Hause entfernen durfte, dass er am selben Tage wieder zurückkommen könne." ...zum Schutz des Landes gegen die Heiden (Normannen) und gegen die Fluten des großen Meeres,

Gerichtsfreiheit war dem Friesen zugebilligt, wenn er beweisen konnte, dass er unaufschiebbare Arbeiten an seinem Deich ausführen musste.­ Als noch jeder Grundbesitzer eine bestimmte Strecke eines Deiches unterhalten musste,hieß es: "Well neet will dieken, de mutt wieken!" D.h. konnte aus irgend­ einem Grunde ein Grundbesitzer seinen "Diekpand" (be­stimmtes Teilstück eines Deiches je nach Grundstücksgröße) zum Schaden der Nachbarn nicht unterhalten und war die Sicherheit des Landes gefährdet, so musste er dreimal mit dem Spaten in den Deich stoßen und sprach, sich damit frei aller Deichlast, jedoch auch frei von allem Besitz; eine Konkurserklärung. Das ungepflegte Deichstück musste vom Besitznachfolger (Erbe oder Er­werber) in Ordnung gebracht und unterhalten werden.

Und so ist es geblieben, die vielen Jahrhunderte hindurch. Die Zeit allerdings, wo Jeder Grundbesitzer seinen "Diekpand" hatte, sind vorbei. Sie wurde ab­gelöst durch eine geldliche Belastung, den "Deichschoß". Jeder Grundbesitz, auch das kleine Einfa­milienhaus ist mit dieser zusätzlichen Steuer be­lastet. Diese Last wurde bis vor Jahren von den Küstenbewohnern. aufgebracht, deren Grundstücke im sogenannten Flutbereich lagen, d. h., d i e Grundstücke waren bei Sturmfluten oder überhaupt von überflutungen durch die salzene See" bedroht.

Die schweren Sturmfluten der letzten Jahrzehnte (Holland 1953, Hamburg 1963, November‑Dezember 1973 und Januar 1976) haben den Einsatz größerer Landes-­ und Bundesmittel bewirkt. Und jetzt wird eine Deich­verstärkung durchgeführt, wie sie ohne diese Mittel nicht durchführbar gewesen wäre und die sich den bewundernswerten Anstrengungen unserer Vorfahren zur Erhaltung des Lebensraumes anschließt. "Kein Deich ‑ kein Land ‑ kein Leben" dieser Satz hat auch im 20. Jahrhundert seine Gültigkeit.

Doch zurück zur Geschichte und zu unserer Ausstellung. Mit einfachsten Geräten, der Bahre, ja mit Tüchern und später mit der Karre wurde der Deich zusammengetragen bzw. gefahren. Das Material lieferte einmal das einzudeichende Land und auch das Deichvorland bzw. das Watt. Ein gewisser Streifen binnen‑ sowie außendeichs wurde von der Entnahme der Erde ausgespart, damit der Deich seine Standfestig­keit behielt. Was jedoch der einfache Erdwall, ist er nicht besonders befestigt. Und so kam man schon ziemlich früh zur sog. "Besodung", d.h., Gras­soden (Rasenstücke) wurden, mittels des Sodenschneiders und des Sodenhebers geschnitten. Außendeichs für die Außenberme und binnendeichs für die Binnen­seite des Deiches. (Außen: Salzluftunempfindliche Gräser. Diese Soden wurden mit der "Gabel" und mit der "Bahre" (s.o.) später mit der Sodenkarre an den Deich transportiert und dort säuberlich verlegt. Mit dem Sodenklopfer, der "Faalte", angeklopft und danach, wurde der Deich "bestickt". Zum "Deichsticken" band sich der Deicharbeiter, hier der "Dieksticker" oder einfach "Sticker" das "Stickerkissen" vor dem Bauch und drückte mittels der "Stickernadel" mit seinem Oberkörper ein Strohband in den Deichkörper. Dies war eine schwere Arbeit. Eine erste, feste Verbindung zwischen Grassode und Deich war damit bis zum Anwurzeln der Grassode ge­schaffen. Für jeden lfd. Meter "Naht"  wurden etwa 250 g geschmeidiges Roggenlangstroh gebraucht. Auf einen Quadratmeter waren ca. 140 Stiche erforderlich, für die der Sticker 3 - 400 Stöße machen musste. Die Tagesleistung eines guten Stickers lag bei 30 -50 Quadratmeter.

Welch ungeheure Leistung in vergangen Jahrhun­derten vollbracht wurde mag in einigen Zahlen dargestellt werden. Allein im Gebiet der Stadt Norden sind fast 30 km Seedeich oder Landesschutzdeich zu unterhalten. An der Deutschen Nordseeküste sind es etwa 400 km, ohne die kleineren Flußdeiche. Zum Deichquerschnitt ist folgendes zu sagen: Von den ersten Deichen, die etwa 2 m hoch waren und eine Grundfläche von 3 ‑ 4 m hatten, hat sich der moderne Deich zu einer Hähe von ca. 8 m über NN und einer Grundbreite bis zu 70 m entwickelt. Je nach Deichform beinhaltet ein lfd. Meter Deich etwa 350 cbm Erde. Dazu kommt noch ein gewisser Zuschlag um die Verdichtung und die Verdrängung auszugleichen.

Diese gewaltige Erdbewegung ist nur mit modernsten Maschinen, Baggern, Planierraupen und Transportmittel wie Schienenweg, Lkw‑Transport und Pipe1ine möglich. Im 18 Jh. lag die Leistung einer Arbeitskraft bei Gewinnung, Transport und Einbau bei 500 & 1000 cm in einer Saison je nach Bodenart. Heute mit modernen Geräten liegt die Leistung bei 20.000 bis 40.000 cbm je Bauzeit und Arbeitskraft (April bis Oktober).

Wie wichtig die Deiche für die Ostfriesische Halbinsel sind, beweist, dass ohne Deichsicherung Ostfriesland bei jeder normalen Flut, also2 mal täglich, bis zu einem Drittel überspült würde. Bei einer sehr schweren Sturmflut würde das Land so­ gar bis zu 70% vom Salzwasser überspült werden.

Aber nicht nur der Deichbau, auch die Landgewinnung spielt eine große Rolle an der Küste. Früher ausge­führt um Neuland zur Besiedlung zu gewinnen bzw. alte Meereseinbrüche wieder auszugleichen, ist die Landge­winnung jetzt ein wichtiger Teil des Küstenschutzes. Bei einem Deich ohne Vorland ‑ einem Schardeich ‑ lau­fen die Wellen in einer schwerer Sturmflut gegenüber einem Deich mit Vorland 1 bis 2 m höher auf (senkrecht gemessen).

Um den "Anwachs" zu beschleunigen, werden Buhnen ‑ Lahnungen ‑ senkrecht zur Deichlinie in das Watt getrieben. An den Köpfen werden Querlahnungen verlegt, und zwar so, dass immer wieder Öffnungen für den Rückfluss des Wassers bestehen. Früher wurden diese Dämme aus Buschwerk hergestellt, jetzt werden z.T. Steindämme und auch schon Betonfertigteile benutzt. Zwischen diesen Lahnungen kommt das Wasser schneller zur Ruhe und die Sinkstoffe sinken schneller ab. Das Watt erhöht sich somit schneller. Später werden Begrüppungen vorgenommen, d.h., es werden jetzt durch Bagger und Fräsen Gräben ausgehoben Und der Aushub auf die dazwischen liegenden Flächen verteilt. Diese Arbeiten können jedoch nur bei Niedrigwasser ausgeführt werden. Noch bevor das Land oder das Watt über der Mittel­hochwasserlinie liegt, stellt sich schon der erste Bewuchs, der Queller sowie das Schlickgras "Spartina" ein. Diese Pflanzen helfen weiter Sinkstoffe festzuhalten. "Wächst" das Watt, stellt sich bald die Salzmelde und die Strandaster ein. Beiden folgt das Andelgras; es bildet sich die sog. Salzwiese und das Wate ist Land geworden. Weitere Pflanzen­familien mit zunehmender Entsalzung sind dieStrandnelke, der Strandflieder und der Seewermut.

Und es entwickelt sich langsam ein Rasen aus dem Rotschwingel, der als Salzwasserverträglicher Süß­wasserrasen anzusprechen ist. Damit ist eine jahr­zehntelange Entwicklung abgeschlossen. Der Mensch hat die Natur zunutze gemacht bzw. unterstützte sie und im Sommer weidet schweres schwarzbuntes Jungvieh auf den nährstoffreichen Hellerweiden.

 


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